Ein Drama gehört auf die Bühne – nicht nur ins Klassenzimmer

„Der zerbrochene Krug“ von Kleist ist für Schülerinnen und Schüler des Deutsch-LKs 2026 Abiturthema. Ein Werk, das bei den Jugendlichen “gut ankam”. Zum Abschluss besuchte der Deutsch-LK von C. Welz die aktuelle Inszenierung des Nationaltheaters Mannheim. Zwei Schüler haben lesenswerte Kritiken verfasst, die auch andere motivieren können, ins NTM zu gehen, um sich mit dem Lustspiel weiter auseinanderzusetzen.

Thomas H. (KS2): Theaterbesuch: Der zerbrochene Krug

Am Sonntag, dem 19. Oktober 2025, besuchten wir, der Deutsch-Leistungskurs von Frau Welz, die Inszenierung von Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug im Alten Kino Franklin des Nationaltheaters Mannheim.
Das Stück, das ursprünglich die Macht und Korruption des Justizsystems kritisch beleuchtet, wird in dieser modernen und experimentellen Inszenierung deutlich neu interpretiert. Auffällig ist dabei sowohl die ungewöhnliche Besetzung als auch der feministische Unterton.

Schon auf den ersten Blick fällt das minimalistische Bühnenbild auf. Im Zentrum steht eine drehbare Plattform, die den Spielraum in Bewegung bringt. Umgeben ist sie von wenigen Requisiten. Es gibt einen Stuhl mit einer Lampe und den Platz von Frau Marthe Rull, der als einziger aktiv genutzt wird. Alles andere dient eher der Atmosphäre und der Belichtung. Dieses reduzierte Bühnenbild lenkt den Blick ganz auf die Figuren, wirkt aber stellenweise auch etwas leer und unklar in seiner Funktion.

Besonders auffällig ist die Besetzung. Der Dorfrichter Adam wird von einer Frau gespielt. Diese Umkehrung traditioneller Geschlechterrollen ist offensichtlich ein zentrales Konzept der Inszenierung und soll vermutlich auf Machtverhältnisse und feministische Perspektiven aufmerksam machen. Der Schreiber Licht wird von zwei Personen dargestellt, einem Mann und einer Frau. Das könnte symbolisch für das doppelte Spiel oder die Spaltung der Figur stehen, wirkt auf mich jedoch eher verwirrend. Dass Ruprechts Vater ganz gestrichen wird, trägt zusätzlich zu diesem verfremdeten Eindruck bei.

Musik, Mikrofone und gezielte Lichtakzente sollen die Spannung verstärken, wirken jedoch manchmal überinszeniert. Auffällig ist auch das einheitliche Kostümkonzept. Alle Figuren tragen Kleidung, auf der das Symbol des zerbrochenen Krugs aufgegriffen ist. Dieses stilistische Mittel verleiht der Inszenierung zwar einen gewissen Zusammenhalt, macht es aber schwerer, die Figuren klar zu unterscheiden oder ihre gesellschaftliche Rolle zu erkennen. Inhaltlich entsteht so eine Mischung aus Komik und Tragik.

Die moderne Inszenierung ist ein spannender Versuch, das Stück in die Gegenwart zu holen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass diese Veränderung nicht unbedingt nötig ist. Kleists Kritik an Machtmissbrauch und Heuchelei ist auch ohne solche Änderungen noch aktuell genug.

Trotz einiger Verwirrung und stilistischer Brüche ist der Theaterbesuch lohnenswert. Die Inszenierung fordert zum Nachdenken auf: über Rollenbilder, Gerechtigkeit und die Frage, wie weit man einen Klassiker verändern darf, ohne seine Essenz aufzuweichen. Gerade durch ihre Ungewöhnlichkeit hat sie zu Diskussionen im Kurs angeregt und macht deutlich, dass Theater heute nicht nur unterhalten, sondern auch provozieren und hinterfragen will.

Subhan N. (KS2): Kritik Theaterbesuch „Der zerbrochene Krug“

Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug zählt zu den großen Klassikern der deutschen Theaterliteratur. Hinter der komischen Fassade eines dörflichen Gerichts verhandelt Kleist Themen, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben: Machtmissbrauch, Wahrheit und die menschliche Neigung zur Selbsttäuschung. Eine aktuelle Inszenierung am Nationaltheater Mannheim versucht, diese zeitlose Komödie radikal neu zu deuten, mit beachtlichem gestalterischem Mut, jedoch auch mit Entscheidungen, die nicht in allen Punkten überzeugen.

Bereits der Beginn zeigt, dass eine eigenständige Interpretation durchaus gelingen kann. Besonders die Symbolik des Apfels zieht sich als Leitmotiv durch die Inszenierung und verleiht ihr eine ungewohnte Schärfe. Gleich zu Beginn stopft Ada, hier die weibliche Entsprechung des Dorfrichters, Eve während der Tatnacht einen Apfel in den Mund. Dieses drastische, beinahe sakrale Bild ruft unmittelbar den biblischen Moment der Versuchung und Schuld hervor. Damit greift die Regie eine Thematik auf, die bei Kleist stets mitschwingt, und übersetzt sie in eine eindringliche, körperlich erfahrbare Bildsprache. Diese Abweichung von der Vorlage ist produktiv: Sie zeigt, wie sorgfältig gesetzte Symbole den moralischen Kern des Stücks vertiefen können, ohne ihn zu verfälschen.

Auch die Figur der Frau Brigitte erfährt in dieser Fassung eine bemerkenswerte Erweiterung. Sie erscheint hier vielmehr als distanzierte Beobachterin des Geschehens, beinahe wie eine moralische Instanz, die das Unrecht erkennt, ohne selbst Teil der Intrige zu werden. Diese Interpretation verleiht der Figur eine stille Autorität, die dem Stück guttut. Allerdings bleibt fraglich, ob diese subtile Lesart beim Publikum tatsächlich ankommt; wer mit Kleists Text nicht vertraut ist, könnte die Bedeutung ihrer Zurückhaltung leicht übersehen. Dennoch gelingt es der Inszenierung, Brigitte aus ihrer Beobachterrolle zu lösen und sie zu einer Figur unerwarteter Würde zu machen.

Ein besonders origineller Einfall der Regie betrifft die Figur des Schreibers Licht. Sie wird von zwei Darstellenden gleichzeitig verkörpert, eine Entscheidung, die zunächst irritiert, sich jedoch als treffende Spiegelung des inneren Zwiespalts der Figur erweist. Der Schreiber, bei Kleist hin und her gerissen zwischen Loyalität und Wahrheit, wird so als buchstäblich gespaltene Gestalt sichtbar. Diese Doppelung macht den inneren Konflikt greifbarer, auch wenn sie nicht immer präzise geführt ist. Dennoch handelt es sich hier um eine inhaltlich begründete und ästhetisch nachvollziehbare Neuerung, die dem Text eine zusätzliche Dimension eröffnet.

Im Gegensatz zu Kleists Original endet die Mannheimer Fassung ohne jede Form von Gerechtigkeit. Eve bleibt ungehört, Ruprecht wird verurteilt, und Walter zeigt keinerlei Interesse an der Wahrheit. Diese Abkehr vom klassischen Schluss gehört zu den stärksten Momenten der Inszenierung. Statt einer moralischen Wiederherstellung zeigt sie eine Welt, in der Machtverhältnisse fortbestehen und Unrecht alltäglich bleibt – eine bittere, aber zutiefst zeitgenössische Perspektive. Der Zuschauer verlässt den Saal nicht versöhnt, sondern ernüchtert, und gerade darin liegt die Kraft dieser Neuinterpretation. Der Schluss ist illusionslos, trostlos und beklemmend gegenwärtig.

Der radikalste Eingriff, der die gesamte Aufführung prägt, ist zugleich ihr schwächster: Aus Dorfrichter Adam wird Dorfrichterin Ada. Diese Entscheidung, mag auf den ersten Blick als provokanter feministischer Kommentar erscheinen, erweist sich jedoch als problematisch. Kleists Stück lebt von der Entlarvung männlicher Machtstrukturen, von der Komik, die aus der Selbstgefälligkeit und Heuchelei einer patriarchalen Autoritätsfigur entsteht. Wird diese Figur zur Frau, verliert der Text einen wesentlichen Teil seines kritischen Untertons. Die Geschlechterumkehr bleibt oberflächlich und fügt der Handlung keinen interpretatorischen Mehrwert hinzu; sie wirkt eher wie ein plakatives Statement als wie eine inhaltlich begründete Lesart. An diesem Punkt entgleitet der Inszenierung das feine Gleichgewicht zwischen Neuerzählung und Überformung.

Am Ende bleibt ein ambivalenter Gesamteindruck: eine Inszenierung, die mutig denkt, bildstark erzählt und in ihren besten Momenten tief berührt, die jedoch dort, wo sie allzu deutlich demonstrieren will, den inneren Faden verliert. Wo sie Kleist interpretiert, überzeugt sie durch symbolische Klarheit und psychologische Präzision; wo sie ihn korrigieren will, gerät sie ins Didaktische. Gerade die Verwandlung Adams in Ada steht sinnbildlich für diesen Widerspruch: ein ambitioniertes, letztlich aber selbstentlarvendes Experiment, das mehr über den Zeitgeist erzählt als über den Text selbst.