Der Leistungskurs Russisch überträgt eine noch nie übersetzte Kurzgeschichte aus dem Jahr 1940 ins Deutsche.
Am 9. Mai wird in Deutschland traditionell der Muttertag gefeiert. In Russland hat dieses Datum eine andere Bedeutung: Es wird an den Sieg über den Faschismus erinnert. Im 2. Weltkrieg verlor die UdSSR über 24 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen waren Zivilisten, oft Kinder. Die Generation, die den Krieg erlebte, hatte ein schweres Leben. Oft ohne nur etwas an Bildung genossen zu haben, musste sie Schreckliches ertragen: Krieg, Verwüstung, den Tod ihrer Liebsten. Der Leistungskurs Russisch unserer Schule möchte an beide Feiertage erinnern und übersetzt eine Kurzgeschichte der sowjetischen Schriftstellerin Valentina Owsejewa aus dem Jahr 1940, die noch nie ins Deutsche übertragen wurde. Es handelt vom Jungen namens Borjka und seiner Oma, die er „Babka“ („Die Alte“ auf Russisch) nennt.
Babka
Valentina Owsejewa (1940)
Babka war füllig, stämmig und hatte eine sanfte, singende Stimme. In einem alten Strickpullover wanderte sie durch die Wohnung.
„Die ganze Wohnung besetzt sie“, brummte Borjkas Vater.
Und die Mutter widersprach ihm etwas schüchtern: „Ein alter Mensch…. Wohin soll sie gehen?“
„Sie lebt schon sehr lange …“, seufzte der Vater. „Ihr Platz ist in einem Altersheim – nur dort!“
Alle im Haus, Borjka eingeschlossen, betrachteten Babka als einen völlig überflüssigen Menschen.
Sie schlief auf einer Truhe. Die ganze Nacht drehte sie sich von einer Seite auf die andere und am Morgen stand sie vor allen anderen auf und klirrte mit dem Geschirr in der Küche. Dann weckte sie ihren Schwiegersohn und ihre Tochter: „Der Samowar1 ist heiß. Aufstehen! Trinkt etwas Heißes.“
Sie näherte sich Borjka: „Steh auf Schatz, es ist Zeit für die Schule!“
„Wozu?“, fragte Borjka mit schläfriger Stimme.
„Wozu in die Schule? Der Ungebildete ist taub und stumm – deshalb!“
„Geh Babka … Mama!“, schrie Borjka. „Warum summt sie wie eine Hummel vor meinem Ohr?“
„Borjka, steh auf!“, klopfte der Vater an die Wand. „Und Sie, Mütterchen, geht weg von ihm, nervt nicht schon am Morgen.“
Aber Babka ging nicht. Sie zog Borjka Socken und eine Strickjacke über.
Im Eingangsbereich kehrte der Vater mit einem Besen.: „Wo hast du, Babka, die Gummistiefel hingelegt?“
Sie beeilte sich, ihm zu helfen: „Ja, hier sind sie, Petruscha, vor dir. Gestern waren sie sehr dreckig, ich habe sie geputzt“. Der Vater knallte die Tür zu. Borjka rannte ihm hastig nach.
Auf der Treppe steckte Babka einen Apfel oder eine Süßigkeit in seine Tasche. „Ach du schon wieder! Früher hättest du es nicht geben können. Ich verspäte mich“, beschwerte sich Borjka.
Danach ging die Mutter zu Arbeit. Sie hinterließ Babka etwas an Lebensmitteln und redete auf sie ein, nicht so viel zu verbrauchen: „Sparsam, Mama. Peter ist jetzt schon wütend, er muss ja vier Münder stopfen“ Daraufhin prasselten andere Belehrungen auf Babka. Sie nahm sie still an, ohne Widerstand. Als die Tochter ging, fing sie an mit der Hausarbeit: Putzte, wischte, kochte, danach nahm sie aus der Truhe eine Stricknadel und strickte.
Borjka kam aus der Schule, schmiss seinen Mantel und die Mütze in die Arme der Babka und warf die Tasche mit seinen Büchern auf einen Stuhl und schrie: „Babka, Essen!“ Sie verstaute das Nähzeug bereitete das Essen vor und achtete aufmerksam darauf, wie Borka aß. In diesen Zeiten sah Borjka unbewusst Babka als seine engste Vertraute an. Er erzählte ihr gerne über den Unterricht und über seine Kameraden. Sie hörte ihm liebevoll mit großer Aufmerksamkeit zu und tröstete: „Alles gut, Borjka, das Schlechte und das Gute ist gut. Das Schlechte macht den Menschen stärker und das Gute bringt seine Seele zum Gedeihen“
Manchmal beschwerte sich Borjka über seine Eltern: „Vater versprach mir einen Schulranzen. Alle Fünftklässler haben einen Schulranzen.“ Babka redete dann mühsam auf Borjkas Mutter ein, dass sie ihm einen Rucksack kauft. Nach dem Essen schob Borka den Teller von sich „Leckerer Kissel2 heute, Babka! Hast du ihn probiert?“ „Ja, ja Ich habe heute gegessen“, nickte Babka mit dem Kopf. „Mache dir keine Sorgen um mich Borjka. Wenn du groß bist, verlasse nur die Mutter nicht, kümmere dich um sie, früher sagte man, im Leben gibt es drei schwere Sachen – Gott anzubeten, Schulden zu bezahlen und die Eltern zu versorgen.“ „Ich werde sie nicht verlassen. Ich lasse meine Mama nicht allein“, antwortete Borjka. „Ja, so ist es gut Borjka, du kümmerst dich um deine Eltern. Und Ich werde mich im Himmel freuen.“ „Aber komm nicht als Tote zurück“, sagte Borjka.“
Nach dem Mittagessen, wenn Borjka zu Hause blieb, gab Babka ihm eine Zeitung und setzte sich zu ihm und bat ihn leise: „Lies mir bitte aus der Zeitung vor“ „Lies“, murmelte Borjka, „du bist doch kein Kind.“ „Was soll ich denn tun? Ich kann es nicht“, antwortete Babka verschämt. „Du bist nur faul, wie oft habe ich es dir beigebracht!“, ermahnte sie Borjka. Babka holte ein Heft aus dem Koffer sowie einen Stift und eine Brille. „Wieso brauchst du eine Brille, du kennst die Buchstaben sowieso nicht!“, sagte Borjka und lachte. Der Unterricht begann. Babka bemühte sich, die Buchstaben akkurat zu schreiben, die Buchstaben <ш> und <т> gelangen ihr nicht. Du hast wieder einen zusätzlichen Strich hingeschrieben“, sagte Borjka verärgert „Oh!“, stöhne Babka vor Schreck, „mir ist das gar nicht aufgefallen.“ „Gib mir den Mantel, Babka schnell, ich habe keine Zeit für so etwas.“, stöhnte Borjka und gab den Unterricht schnell wieder auf. Babka ist wieder einmal allein geblieben. Sie richtete ihre Brille zurecht, schlug vorsichtig die Zeitung auf, ging zum Fenster und schaute lange mühselig in die schwarzen Zeilen. Die Buchstaben krochen wie Käfer vor ihren Augen in alle Richtungen. Unerwartet stach ihr ein bekannter Buchstabe ins Auge. Die alte Frau drückte auf diesen mit ihrem dicken Finger und eilte zum Tisch: „Drei Striche, drei Striche“, freute sie sich.
Es kam zu Boris ein Freund: „Guten Tag!“, sagte er freundlich Boris stupste ihn leicht an mit dem Ellbogen: „Komm schon, lass uns gehen! Du musst sie nicht begrüßen. Sie ist bei uns bloß Babka!“ Im Nebenzimmer sagte der Freund zu Borjka: „Unsere Großmutter wird immer begrüßt. Sowohl von Verwandten als auch von Fremden. Sie ist bei uns ein wichtiger Mensch.“ Die beiden Freunde verabschiedeten sich. An der Türschwelle hielt Borjka seinen Freund auf: „Oma!“, schrie er ungeduldig auf: „Komm her!“ „Ich komme, Ich komme“, antwortete Babka und humpelte aus der Küche. „Hier“, sagte Borjka zu seinem Freund: „Verabschiede dich von meiner Großmutter.“ Nach diesem Gespräch fragte Borjka Babka oft: „Sind wir böse zu dir?“ Und den Eltern erzählte er: „Unsere Oma ist die Beste, lebt aber schlechter als andere, niemand kümmert sich um Sie.“
Insbesondere interessierte Borjka Babkas Gesicht. Auf ihm waren sehr viele unterschiedliche Falten: Tiefe, kleine, dünne, wie Fäden, und breite, welche im Laufe der Zeit entstanden sind. „Wieso bist du so ausgemalt? Bist du schon sehr alt?“, fragte er. „An den Falten im Gesicht, mein Engel, kann man das Leben eines Menschen wie ein Buch ablesen. Hier haben sich bloß Trauer und Not bemerkbar gemacht. Ich habe Kinder begraben, habe geweint – so haben sich die Falten auf dem Gesicht entwickelt. Mein Mann wurde im Krieg umgebracht- wieder habe ich viel geweint und die Falten blieben.“ Borjka hörte zu und schaute mit Furcht in den Spiegel: „Hat er zu wenig in seinem Leben geheult – Wird sich das ganze Gesicht mit solchen Fäden Überziehen?“ „Geh weg, Babka!“, brüllte er dann. „Du redest einem immer Dummheiten ein.“
Babka hatte in ihrer Truhe ein auffälliges Kästchen mit zwei Schlössern. „Was hast du dort Babka?“, fragte Borjka „Wenn ich sterbe, wird alles euch gehören“, ärgerte sie sich plötzlich. „Lass mich in Ruhe, ich geh ja auch nicht an deine Sachen“. Einmal hat Borjka Babka schlafend im Sessel aufgefunden. Er öffnete die Truhe, nahm das Kästchen und sperrte sich in seinem Zimmer ein. Babka wachte auf, sah die geöffnete Truhe, seufzte und eilte zur Tür. Borjka machte sich lustig: „Ich werde sie gleich öffnen!“
Babka fing an zu weinen, ging in ihre Ecke zurück und legte sich auf die Truhe. Borjka erschrak, öffnete die Tür, schmiss ihr das Kästchen auf sie und rannte weg. „Aber ich nehme es von dir, genauso eines brauche ich“, ärgerte er sie später.
In der letzten Zeit wurde Babka plötzlich buckelig, ihr Rücken wurde rund, sie lief langsamer und setzte sich öfter hin. „Sie wird in die Erde wachsen“, sagte der Vater. „Lach nicht über einen alten Menschen“, antwortete Mutter.
Babka starb vor dem Mai-Fest. Sie starb allein, im Sessel mit Strickzeug in der Hand, auf dem Schoß lag eine nicht zu Ende gestrickte Socke. Auf dem Boden ein Wollknäulen. Sie wartete anscheinend auf Borjka, denn der Tisch war gedeckt. Aber zu Mittag hat Borja nicht mehr gegessen. Borjka fand sie als erster, er starrte lange auf die tote Babka und eilte dann stürmisch aus dem Zimmer. Er rannte auf die Straße und hatte Angst nach Hause zurückzukehren. Als er vorsichtig die Tür öffnete, waren Mutter und Vater bereits zu Hause. Am nächsten Tag beerdigten sie Babka. Als sie zum Friedhof gingen, machte Borjka sich sorgen, dass sie den Sarg fallen lassen, und als er dann in den tiefen Graben hineinschaute, versteckte er sich hastig hinter dem Rücken seines Vaters.
Am nächsten Tag entdeckte er die sitzende Mutter vor der geöffneten Truhe. Auf dem Boden lag lauter Krempel. Es roch nach alten Sachen. Die Mutter holte einen rostroten Kinderschuh aus der Truhe und legte ihn vorsichtig mit den Fingern zurecht. „Meiner noch“, sagte sie und bückte sich tief über die Truhe. Ganz unten am Boden ertönte der kräftige Lärm des Kästchens. Borka setzte sich hin. Der Vater klopfte auf seine Schulter: „Na, du Erbe, bald werden wir reich!“ „Ohne Schlüssel geht sie nicht auf“, sagte Borjka und drehte sich weg. Die Schlüsselsuche zog sich in die Länge: Er war in der Strickjackentasche versteckt. Als der Vater daran schüttelte und der Schlüssel laut gegen den Boden knallte, zog sich Borjkas Herz irgendwie zusammen.
Das Kästchen ging endlich auf. Der Vater nahm ein festes Bündel heraus: Dort lagen warme Handschuhe für Borjka, Socken für den Schwager und eine Weste für die Tochter, gefolgt von einem aus alter Seide besticktem Hemd – auch für Borjka. Direkt in der Ecke lag ein mit einer roten Schleife gebundenes Päckchen mit Bonbons. Darauf stand etwas in Druckschrift großgeschrieben. Der Vater begutachtete es kurz in den Händen, kniff die Augen zusammen und las laut vor: „Für meinen Enkel Borjuschka“. Borjka wurde blass, riss ihm das Päckchen aus der Hand und rannte nach draußen. Dort setzte er sich an ein fremdes Tor und versuchte, die gekritzelte Handschrift zu entziffern: „Für meinen Enkel Borjuschka.“ Der Buchstabe ш hatte 4 Striche.
„Sie kann es immer noch nicht!“, dachte er. Plötzlich erschien seine Babka vor ihm, als wäre sie lebendig – ruhig, verschämt, ohne jegliche Ahnung davon, wie man „ш“ schreibt.
Borkja schaute verwirrt auf sein Haus zurück und lief mit dem Päckchen in der Hand durch die Straßen an einem fremden langen Zaun entlang. Erst am späten Abend traf er zu Hause ein; seine Augen waren von Tränen angeschwollen, an seinen Knien klebte frischer Lehm fest. Babkas Päckchen legte er sich unter das Kissen und nachdem er die Decke über den Kopf gezogen hatte, dachte er sich: „Babka wird am nächsten Morgen mich nicht wecken.“
1: Russischer Wasserkocher für den Tee
2: Russische oder polnische Süßspeise, ähnelt etwas der roten Grütze.
Übersetzung von: Katharina K,, Angelina H, Elena D, Madeleine A, Michael G, Stephanie B, Nastja M, Viktoria R.